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    New York Cannibals von Boucq / Charyn

    Boucq wollte ich zunächst zurückstellen. Warum? Weil er mir einiges abverlangt. Er zeichnet keine „Wohlfühlcomics“. Schon das Cover der Kanibalen ist, jedenfalls für einen Durchschnittstypen wie mich, nur bedingt geeignet, es als letztes Bild vor dem Einschlafen mit in die Traumwelt zu nehmen. Dazu kam, dass die Thematik laut Splittervorschau eher auf eine ziemlich realistische Problemwelt schließen ließ, als auf einen Wohlfühlcomic. Spontan habe ich mich dann im Comicshop doch umentschieden. Den Ausschlag hat vermutlich die Einschätzung des Inhabers gegeben, der „Teufelsmaul“ (erschienen bei Splitter) für ein Meisterwerk hält. Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich nur nach einem Grund gesucht, das Ding zu kaufen, auch aus Angst etwas zu verpassen.

    War die Furcht gerechtfertigt? Ja, auf jeden Fall. Warum? Wegen der überragenden Zeichnungen von Boucq. In der kurzen Vorstellung der Künstler am Ende des Bandes wird sein „einzigartiger Stil“ als „Synthese von Karikatur und Strenge, Lesbarkeit und Präzision der Zeichnungen“ zutreffend beschrieben. Boucq führt uns nicht die Glitzerwelt der Hochglanzmagazine und Modezeitschriften. Sein New York von 1990 zeigt nicht die turbokapitalistische Wallstreet, sondern die Parallelwelten abseits des Mainstreams, abseits der sicheren Zonen für Mittelstand, Bürgertum und Touristen. Es sind die Elendsviertel von Harlem, heruntergekommene Straßenzüge, wo Spekulanten Gebäude verfallen lassen, um sie abreißen zu können und um anschließend gewinnbringend die schöne, neue, heile Welt für Leute zu bauen, die es sich leisten können. Es sind Viertel wie Washington Heights, wo Einwanderer und Emigranten leben, die unteren sozialen Schichten, das Stadtbild geprägt ist von kleineren Geschäften und Graffitis.


    Seine Protagonisten sind vom Leben gezeichnet, nicht nur körperlich. Er zeigt uns die Parallelwelten der Steroide schluckenden Pumper, der Tätowierer, der Kriminellen, der Schwulen und Lesben. Boucq lässt dieses New York bildlich wieder auferstehen. Die einzelnen Panels, klassisch nebeneinandergereiht, haben es in sich. Der Erzählrhythmus wird nahezu perfekt umgesetzt. Für die Besprechung zur Durchführung einer Razzia bis zur Festnahme des Drogenhändlers benötigt er ganze 3 Seiten, wobei das Aufbrechen der Wohnungstür und das Eindringen der Polizisten grandios dargestellt sind. Boucq kann Action. Es entsteht das Gefühl, einen Film zu sehen. Er kann aber auch alles andere. Mimik, Körperhaltungen von Personen, architektonische Zeichnungen, Atmosphäre. Wunderbar. Ganz große Kunst. Dieser Band sollte in keinem Regal eines Sammlers fehlen.


    Und was ist mit der Story? Die Geschichte fesselt. Sie ließ mich nicht los, zog mich förmlich hinein, so dass ich den Band ohne Pause durchlas. Bis zum Schluss spannend erzählt. Zum Inhalt: Tanaka ist erwachsen und arbeitet als Polizistin in Washington Heights. Sie lebt bei ihrem Adoptivvater Pawel, der als Tätowierer arbeitet. Bei einem Einsatz findet sie im Müll ein Baby, das sie heimlich mit nach Hause nimmt. Sie will es behalten, weil sie infolge der Einnahme von Steroiden kaum noch eine Chance hat, selbst Kinder zu bekommen. Auf einmal tauchen zwei alte Bekannte aus Pawels Vergangenheit im Gulag auf. Eine von ihnen ist schon auf dem Cover zu bewundern. Ein zufälliges Aufeinandertreffen von Ereignissen? Welcher Zusammenhang besteht mit dem auffälligen Interesse mehrerer Personen an Pawels Fähigkeit, Geldscheine täuschend echt tätowieren zu können? Gibt es eine Verschwörung im Hintergrund? Welche Rolle spielt das FBI? Ob es ein Happyend gibt, erfährt der Leser in dem Showdown am Schluss. Wie es sich gehört.

    Allerdings haben mich ein paar Aspekte der Geschichte nicht überzeugt. Was als harter, realitätsnaher Copkrimi beginnt, entwickelt sich zunehmend in eine esoterische, mystische Richtung. Es geht um die Macht von Träumen, einem zerstörerischen Geist oder Gottheit. Nach meinem Verständnis bringen diese Elemente die Geschichte nicht weiter. Sie sind kein wirklicher Gewinn. Ohne sie wäre die Erzählung stringenter. Gleiches gilt für „Mama Paradise“, die gnadenlos überzeichnet ist als eine Art Mutter Theresa des New Yorker Untergrunds. Und noch ein Punkt, der mir nicht so gut gefällt: Was Charyn mit der Story ausdrücken will, erklärt er nochmals ausdrücklich im letzten Panel. Die Holzhammermethode. Der Autor war vielleicht der Ansicht, seine Leser*innen benötigen diese Hilfe. Laut Nachwort ist Charyn auch Schriftsteller. Dort heißt es, er werde von einigen als einer der wichtigsten Schriftsteller der zeitgenössischen US-amerikanischen Literatur angesehen. Das nenne ich mal eine mutige Aussage.


    Fazit: Trotz der marginalen Schwächen der Geschichte eine unbedingte Leseempfehlung!
    Geändert von Zardoz (28.07.2021 um 20:49 Uhr)

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