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Thema: Tostedt Rock City

  1. #1
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    Tostedt Rock City

    Familienverhältnisse müssen gelegentlich in Schweiß gebadet werden

    You Have To Destroy The Previous Generation To Invent Your Own (Andrew Czezowski)

    Merle Müller. Steffi Müller. Sie zählten zu der Sorte Mutter-Tochter-Gespann bei denen man auf den ersten Blick vermuten würde, dass es gute Freundinnen sind. Als ob ein Deutscher Schäferhund einen Cockerspaniel adoptiert hätte – oder umgekehrt. Ein eher geringer Altersunterschied. Des Weiteren kaum Ähnlichkeit, bis auf die gelockten Haare. Die Mutter klein, mit beachtlicher Oberweite, altgriechischen Zügen. Wie eine wertvolle, schick designte Vase. Zur Dekoration in der Ecke einer verrauchten Kneipe. Ihre Tochter hingegen fast einen Kopf größer, wunderhübsches, rundes Gesicht, bei gertenschlanker Figur.

    Merle Müller - Feminin, aber gleichzeitig die Sorte Frau mit der man(n) auch mal ordentlich einen trinken konnte. Oder einen dicken Joint rauchen. Smoke around the clock. Galt auch bei normalen Zigaretten.

    Steffi Müller – nicht weniger weiblich. Eher zierlich. Niedlich. Süß. Anders als ihre Mutter strikte Nichtraucherin. Trank gelegentlich, wenn sie mit ihren Freundinnen Party machte einen Sekt. War aber sonst komplett drogenfrei. Gott, war ihr übel, wenn sie sich in der vollgequalmten Wohnung von Merle aufhielt.

    Eben diese Merle war in ihrer Jugend eine wilde Punkerin, soweit wie man dies in Bremerhaven sein kann – typische Kleinstadtrevolte eben. Mülleimeranzünden, vor der Polizei weglaufen, die damalige Vorstellung von ihren Freundinnen und ihr bezüglich wildem Rebellentums. Später glaubte zumindest Merle erwachsen werden zu müssen. Nahm sogar einige konservative Züge an. Bundeswehr? Wieso nicht? Auch irgendwie Punkrock. Sicher immer noch Feministin, Individualistin. Aber links? Keine Ahnung. Seltsame Gefühle bei ihr bei Männern mit Migrationshintergrund. Dumpfe Gedanken im Kopf. Bin Feministin. Dann ihr Spott über in räucherstäbchengetränkten Fantasien stehengebliebenen Altmaoisten. Der Punk-Bewegung fühlte sie sich aber unbedingt zugehörig, wie auch immer. Wie immer im Leben eine Frage der Definition.

    Ihr Kind dagegen – komplett politisch, total engagiert. Globalisierungskritisch unterwegs. Weltoffene Studentin, die sich vor allem für Spanien interessierte. Generell fremde Kulturen hatten es ihr angetan. Alles, was irgendwie exotisch, fremd war.

    Und dann Merles Liebe zu Musik der härteren Gangart – Punk, Metal, Hardrock, etwas Elektro. Von neuerem wie Hip Hop hatte sie gehört, interessierte sich aber nur am Rande dafür. Jedes Wochenende ging es auf irgendein Konzert. Keine großen Bands. Eher Support von lokalen Helden.

    Steffi hatte diese Leidenschaft bedingt geerbt. Weltmusik? Was immer das ist, aber solche Klänge vielleicht. Wiederum nichts für ihre Mutter jedenfalls. Auch keine Begeisterung für Fotokunst von ihrer Seite. Dafür Sprachen, vor allem romanische. Jeden Sommer verbrachte sie in Galizien, war da sogar offiziell gemeldet.

    Auf der Schulter eine sexy Tätowierung, meist in elegantem schwarz gekleidet – das ganze Erscheinungsbild irgendwo zwischen Gothic-Rockerbraut und 20er-Jahre-Partygirl. Ob sie sich noch mehr stechen lassen soll? Ihr Töchterchen dagegen verabscheute Tatoos sowie jede weitere Form von Körpermodifikation. Ganz natürlich sein war ihr Zauberwort – sich die Haare färben war aber okay.

    Merles Kochkünste? Eher mittelmäßig. Jedenfalls im Vergleich mit Steffi, die sich sehr bewusst (vegan etc.) ernährte. Ihrer Mutter häufig ihren Fastfood-Konsum vorhielt.

    Filme – dieses zelluloidgewordene Gedächtnis der Menschheit – mochten sie beide, aber auf eine Art trennten sie da wieder Welten. Wie bei Musik war Merle ein Gefühlsmensch. Mochte einerseits Independent-Kino wie Aki Kaurismäki oder Jim Jarmusch. Andererseits zog sie sich auch mal einen Blockbuster rein – vor allem wenn sie den Hauptdarsteller attraktiv fand. Ihr absoluter Traum wäre selbst einmal Kamerafrau zu werden! Steffi verachtete so eine Herangehensweise. Sie hatte an der Uni einige Kurse mit Filmgeschichte belegt. Da legte sie sich einen kühlen analytischen Blick zu, verachtete auch das gesamte amerikanische Filmwesen. Ihr Ding war Asien, auch Problemfilme aus dem Iran, was passiert diesbezüglich eigentlich in Afrika oder Lateinamerika? Bloß nicht zu konventionell, experimentell war das Zauberwort.

    Generell konnte Merle mit Steffis hochgestochener Studentensprache wenig anfangen. Manchmal kam es ihr vor, als würde ihre 22jährige Tochter reden, als wäre sie Sechzig.

    Wenn die beiden sich mal trafen, waren es traurige, emotionslose Rituale. Statt Schweigen der Lämmer Stille der Müllers, Nichtssagen der Lockenköpfe, Redepause der Power-Frauen.

    Ein Wahnsinn. Kein Ende in Sicht.

    Diese nahezu sibirische Kälte – Tiefkühlgrüße aus Moskau.

    Bevor sie sich in gewissem Sinne am heimischen Wohnzimmertisch mit Blicken auffraßen, konnten sie dies doch an einem öffentlichen Ort tun, wo es angenehmer ist als in einer stickigen Wohnung? Zum Beispiel in einem öffentlichen Schwimmbad? Quasi swimming pool cannibals?

    Also drehten sie jetzt im großen Chlorbecken des Hallenbads Huchting ihre Runden. Aber es wirkte genauso stoisch und sinnlos, wie wenn sie bei Kaffee und Kuchen zusammensaßen. Wieder Schweigen, Stille, Nichtssagen, Redepause. Doch dann, am Beckenrand, diese zwei Gestalten. Zwei Frauen, eine hellhäutige Brünette. Die andere von eher dunklem, südländischem Teint, mit tiefschwarzen Haaren. Beide…nackt. War heute FKK-Tag? Sie schwammen zu ihnen rüber. Die Braunhaarige, Mittelalte, stellte sich mit leicht sächsischem Akzent als Anna Fuchs vor, Musiklehrerin. Ihre junge Begleiterin hieß Samineh Sadeghi. Eine Saxophonschülerin aus Schenefeld bei Hannover. Mit ihren zarten sechzehn Jahren (wirkte weit älter) bekam Samineh bereits ein Stipendium an einer (wohl) renommierten Bremer Musikschule. Frau Fuchs war dort wohl ihre Dozentin. Warum sie beide nackt waren, blieb immer noch geheimnisvoll. Soll dass das Verhältnis zwischen Lehrerin und Schülerin auflockern, Distanz überwinden? Steffi (ausgerechnet sie, die eher nicht an Musik interessiert war) schien sich jedenfalls gut mit dieser Samineh zu verstehen. Dass diese unbekleidet war, stellte wohl kein Problem dar. Merle wusste ja nicht alles, was ihre Tochter so trieb. Vielleicht nahm sie schon an der einen oder anderen freizügigen Party teil? Jedenfalls unterhielten sich die beiden jungen Damen sehr heiter und angeregt, bis Steffi auf einmal lachend ihren Bikini abstreifte. Oha. Merle war jetzt die einzige bekleidete Person im großen weiten Becken. Nun, dann muss auch wohl bei ihr der Badeanzug runter. Als sie so im Evakostüm neben den anderen Frauen schwamm wurde ihr klar wie ähnlich sie ihrer Tochter sah. Okay, Merle war kleiner als Steffi, schmaleres Gesicht, größere Oberweite. Anders als Steffi war sie untenrum rasiert. Aber trotzdem – irgendwas hatten beide, was sie verband. Die helle Haut. Eine ähnliche Motorik. Gleich geformte Schenkel. Der Rücken. Alles ähnlich. Dann wie sich das Wasser an die nackte Haut schmiegte. Irgendwie hatte es etwas Tänzerisches, beide wagten sich wieder in die Mitte des Beckens. Samineh und Frau Fuchs applaudierten am Beckenrand.

  2. #2
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    Ist dies der Beginn einer wunderbaren Freundschaft?

    Am nächsten Morgen war sie nach innerer Zerknirschung wieder die Alte. Was musste Merle auch einen auf Klugscheißerin machen. Klar dass Rudi da etwas angepisst reagierte. Kann nicht jeder so einen erlesenen Musikgeschmack haben wie sie. Solange er damit leben konnte nur eine Band zu hören ist doch alles gut.

    Alles wieder ok, dachte Merle, nur kein Stress in der Beziehung. Sie war ja sonst froh endlich mal wieder einen Mann an ihrer Seite zu haben. Einen richtigen…Kerl. Kein Möchtegern-Pornorapper der bei Mama wohnt. Kein gestörter (vielleicht sogar zurückgebliebener?) Gruftie-Typ mit Hygiene-Problemen. Von den Männern, Jungs, die sie sonst im Leben hatte, mal ganz zu schweigen…Einfach ein solider Typ mit gutem Job sowie stabilen Körperbau. Vielen Tattoos (ob sie sich weitere machen sollte?). Nur seine musikalischen Vorlieben…waren halt auf nur eine Band beschränkt.

    Heute war sie nicht in Stimmung rauszugehen. Ging nicht ans Telefon und nichts. Nur ihre Tochter dürfte eventuell anrufen.

    Aber Steffi meldete sich nicht. Merle schlief zehn Stunden wie ein Stein und wachte abends um sechs auf. Sie drehte und wendete sich etwas unter ihrer Bettdecke und ging dann raus.

    Duschen, Abendbrot, eigentlich ein Frühstück zu später Stunde. Ei, Marmeladenbrötchen, Kaffee, war ihr jetzt gerade nach.

    Da die vielen Konzerte, die Merle jedes Wochenende besuchte Geld kosten, hatte sie nach ihrer Arbeit bei Photo Dose einen Nebenjob bei einer Tankstelle. eigentlich muss sie da auch hin. Aber die Nachtschicht fängt erst in ein paar Stunden an. Merle muss irgendwie zusehen, wie sie die Zeit totschlägt. Im Kino lief nichts Spannendes. Auf einen Absacker in irgendeinem Laden hatte sie keine Lust.

    Keine Ahnung, ob sie sich hier im Viertel überhaupt wohl fühlt. Merle Müller, Fisch im Wasser. Dann wieder Merle Müller, Putenschnitzel im Streichelzoo. A Spacegirl In Exile. Nadeln in der Seele.

    Das Viertel. Alternativste, hippste Gegend von ganz Bremen. Das kleinste Bundesland, sonst im Schatten von Hamburg, außerhalb der Touristenmagnete eher grau und uncool. Und dann diese geballte, stadteilgewordene Faust, hämmernd ans Tor zur Welt. Aber so cool, dass wirkliche Hipster schon wieder die Nase rümpfen. Irgendwann in den 60er oder 70er Jahren bei ihren Räucherstäbchenfantasien stehengebliebene Altmaoisten, deren Kinder, Enkelkinder. Denen die Sorte Verzweiflung innenwohnte, welche die Leute früher in die Wüste trieb, aber diese war für sie die östliche Vorstadt. Man hatte ihnen als Kindern das Ende der Welt versprochen, dann waren sie enttäuscht, dass sie es nicht bekamen. Nur das Viertel, deren Bewohner die Vision der Bauherren nicht mehr verstanden.

    Palina, Gedanken an diese Dame. Eine Teilnehmerin beim Speed-Dating in Tostedt. Als Schauspielerin gehört Singen zur Ausbildung. Man kann sich mit ihr sicher gut über Musik unterhalten.

    Aus irgendeinem Impuls heraus beschloss sie diese Palina anzurufen. Keine Ahnung warum, Hauptsache dieser unsägliche Lucas nervte nicht mehr. Dieser Möchtegern-Rapper der noch bei seiner Mama wohnt und Merle unbedingt als Aktmodell haben will.

    Keine Rückmeldung. Ob Palina wegen irgendwas sauer auf Merle war? Dabei ging doch von ihr der Impuls aus sich mal wieder zu treffen. Jetzt ging sie nicht dran?

    In Merles Kopf wieder Gedanken an Palina. Diesmal an die Tatsache, dass sie ihr Interesse für Fotografie erwähnte. Zwei oder drei Dinge der Gemeinsamkeit: Beide an Musik interessiert, sowie Fotografie. Und eine Schauspielerin. Faszination dafür bei der anderen. Eventuell mehr?

    Merle ging etwas spazieren, rauchte eine Zigarette und versuchte es dann noch mal. Nach wie vor meldete sich niemand. Dickkopf ist Dickkopf, so versuchte sie es wieder und nochmal, bis endlich Palina an der Strippe war.

    Für einen Besuch wäre es jetzt natürlich zu spät. Merle hatte keine Ahnung wo Palina wohnte. Eine halbe Stunde bis dahin wären es sicher. Dann hätte auch schon die Tankstelle gewartet.

    „Ach du bist`s! Freut mich mal wieder von dir zu hören!“ Es hörte sich an, als würde sie wirklich jubilieren. „Oh sehe gerade, du hast schon ein paar Mal versucht mich zu erreichen, tut mir leid, dass ich mich noch nicht gemeldet habe.“

    „Hab mir die Finger wund gewählt.“ sagte Merle in etwas beleidigtem Tonfall.

    „Ähm, ja, ich hatte das Handy die ganze Zeit aus…“ erwiderte Palina.

    „Macht nichts“ sagte Merle, und meinte es auch so. „Dachte nur mal dass wir uns bei dir oder mir mal treffen, ein bisschen schnacken, oder mal Wein trinken oder was so deinem Geschmack entspricht…du schienst ja interessiert dass wir uns mal sehen, aber wenn nicht…“

    Am anderen Ende der Leitung Schweigen. War es frostig, nachdenklich, neutral? Merle konnte das nicht richtig deuten. Dann ertönte wieder dieser warme, sinnliche Klang.

    „Ich stand auf der Bühne, Merle. Proben für unser neues Stück.“ jetzt von eben dieser Stimme.

    „Oh, wusste gar nicht mehr richtig, dass du Schauspielerin bist, dachte irgendwas mit Kindern, Theaterpädagogik oder so.“ kam es jetzt erstaunt von Merle.

    „Ich kombiniere das, Merle, tanze gerne auf verschiedenen Hochzeiten.“ Das jetzt in einem informativen Tonfall, als würde sie irgendeinen Infotext aufsagen, man merkte, eben eine Schauspielerin die professionell mit ihrer Stimme umzugehen weiß.

    Merle war jetzt am Schweigen. Hatte sie irgendetwas falsches gesagt, vielleicht ein Ding welches Palina unterkühlt werden ließ? Dabei war ja von ihr die Initiative für ein Treffen ausgegangen.

    Aber Schauspielerei. Interessant, vielleicht aufregender als Musik oder Fotografie. Merle ging nicht oft ins Theater. Dafür besuchte sie häufig Kinos, war generell ein großer Filmfan. Ihr Traumberuf, sogar vor Fotografin: Kamerafrau. Vielleicht wäre eine ganz gute Schauspielerin aus ihr geworden, aber Merle zog es persönlich nicht wirklich zur Kunst. Dafür war sie zu praktisch veranlagt.

    Als keine Reaktion mehr kam sagte sie ungeduldig: „Und? Stehst du morgen wieder auf der Bühne?“

    „Ja, selbstverständlich. Muss noch eine Menge geprobt werden.“ erwiderte Palina ruhig und bestimmt.

    „Tja, da kann man nichts machen. Entschuldige bitte die Störung.“ kam es enttäuscht von Merle.

    Merle wollte gerade auflegen, als sich Palinas wohlklingende Stimme wieder meldete:

    „Merle, warte, bitte…“

    „Ja? Bin noch dran, Palina…“ sagte Merle wartend.

    „Ich wollte noch sagen, gegen neun müssten wir mit den Proben fertig sein, wenn auch alles aufgeräumt ist, und so weiter. Wenn du Lust hast mich abzuholen…“ kam es jetzt von Palina.

    „Joa, das ließe sich wohl machen…“, Vorfreude in Merles Stimme.

    Palina schwieg wieder einen Augenblick, Merle hörte, sowie sie den Vorwurf gehört hatte, wie sie ihre Stirn runzelte. Dann sah sie, als stünde sie vor ihr, wie sie lächelte. Wie sie ihre ebenmäßigen weißen Zähne freilegte. Sich Grübchen in ihre hohen Wangenknochen eingruben. Ihre Augen strahlten!

    „Du bist wirklich ein Schatz, Merle!“ sagte Palina mit Leuchten in der Stimme.

    Merle überlegte wann Rudi sieh mal als Schatz bezeichnet hatte. Oder welche Kosenamen er überhaupt hatte.

    Sie schluckte. Ein angenehmes Prickeln durchlief ihren kleinen, gut ausgestatteten Körper. Wow, das ist ja fast wie sich zu verknallen.

    Palina Stimme ertönte wieder, wohlklingend, wohltuend: „Nett, dass du angerufen hast, Merle. Ich mag Schätze. Und Fotofachverkäuferinnen. Freue mich dann auf morgen. Gute Nacht!“

    Merle ging zur Tankstelle. Es sah so aus, als ginge sie auf dem Bürgersteig, aber in Wirklichkeit schwebte sie auf Wolken. Absolut lächerlich eigentlich. Als ob sie einen Typen kennengelernt hätte, auf den sie stand. Aber es war halt so und die Sache war eigenartig: Obwohl sie Palina kaum kannte, kaum etwas über ihre Interessen und Ansichten glaubte sie endlich eine beste Freundin fürs Leben gefunden zu haben. Vielleicht sogar die Schwester, die sie sich immer gewünscht hatte. Dabei hatte sie Theater nie interessiert, aber vielleicht war gerade das der Reiz des neuen?

    Auf ihrem Handy waren wieder zwei Sprachnachrichten von Lucas, diesem perversen Muttersöhnchen. Sofort gelöscht den Dreck. Naja, eigentlich war es nicht direkt pervers zu fragen, ob sie mal Aktmodell sein möchte. Trotzdem nervig.

    Die Schicht selbst verlief dann ruhig, nichts Besonderes. Fast schon ungewöhnlich ruhig. Manchmal dachte sie es wäre ganz nett ihr liebe Menschen wie Steffi oder Rudi um sich zu haben. Andererseits mochte sie es auch mal ruhig, mal ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Kopf frei kriegen.

    Um 23:30 Uhr kam ein wirklich alter Mann, mindestens Achtzig, kaufte sich Pfeifentabak, Schnaps, meinte zu ihr: „Junge Frau, Alkohol und Drogen sind die größten Feinde des Menschen! Aber in der Bibel habe ich gelesen, dass man auch seine Feinde lieben soll!“ Merle fand das lustig. Das versüßte ihr die ansonsten langweilige Nacht.
    Nicht so versüßend fand sie es, dass sie dieser Lucas wieder nervte. Was fiel ihm ein, was glaubte er wer er war? Dämlicher pubertärer Asi-Typ, der nur irgendwelche Rap-Musik mit „Ich ficke deine Mutter“ sowie schlimmeren hört, dadurch denkt, dass er der coolste Macker mit dem größten Schwanz wäre, oder was? Der jeden Satz mit „Weisstu?“ beendet? Aber Merle hatte von Rap-Musik auch keine Ahnung…Nicht ihr Typ Mann jedenfalls, falls man dieses Jüngelchen ein Mann nennen kann…Ob Rudi ihm mal die Meinung geigen sollte? Aber Merle war ja Feministin, wollte sich lieber selbst umso was kümmern…

    Sonst passierte nichts weiter, Während sie auf ihrem Handy rumdaddelte – irgendwelche Spiele spielte, uralte Textnachrichten las – dachte sie an ihre Beziehung mit Rudi. Klar, sie war froh einen starken Mann an ihrer Seite zu haben – aber brauchte eine starke Frau wie sie das überhaupt? Sie mochten beide Rockmusik – aber Rudi mag haargenau eine einzige Band, Nickelback. Wirklich nichts gegen diese Combo – aber nur? Und ehrlich gesagt hatte sie nicht den Eindruck – wenn er mal wieder auf dem Sofa saß und eine Nickelback-Live-DVD anstierte, dass ihn das wirklich begeisterte. Als ob er keine Lust hätte sich mit mehr zu beschäftigen. Anderer Musik. Alle Versuche ihrerseits ihn mit Grunge oder Stoner Rock, Elektro, älteren Sachen bekannt zu machen sind komplett fehlgeschlagen. Aber irgendwie mochte sie das auch. Dieses harte, verschlossene, geheimnisvolle, emotionslose. Unglaublich männlich. Ein richtiger Kerl. Nicht so ein Möchtegern-Ghetto-Player aus dem schleswig-holsteinischen Dorf wie dieser Lucas.

    Langweilig war ihr nie in der Beziehung. Wenn Merle sich nicht in Arbeit stürzte, dann ging es halt auf Konzerte (da ihn die meiste Musik nicht interessierte halt allein), oder fotografierte. Manchmal auch in Fotoausstellungen (was allerdings auch nicht in seinen Interessenbereich fiel.)

    Man muss ja in einer Beziehung nicht immer die gleichen Interessen haben, oder? Aber sie wollte sich jetzt auch nicht die ganze Zeit darüber das Hirn zermartern. Sondern freute sich darauf, wenn Palina – ihre neue Freundin – sich wieder meldete.

    Nach der Nachtschicht schlief Merle wieder durch – sie und Rudi verpassten sich gerade. Sie machte sich dann um acht Abendbrot. Rudi hatte als Wachmann so extreme Arbeitszeiten, dass sie sich kaum zu den Mahlzeiten sahen. Wenigstens eine Gemeinsamkeit des Paares.
    Wieder Lucas, du liebe Güte…

    Merles Proben waren im „Schnürschuh-Theater“ einem kleineren Theater in Bremen-Neustadt, gar nicht so weit weg von ihrer Photo-Dose-Filiale. Wirklich klein und schnuckelig, mehr so ein Jugend-Theater? Wenn bekannte Stücke für Jugendliche umgeschrieben werden, das ist doch wie mit Kunststoff überzogener Edelstahl, oder nicht? Sollte es sich biegen, ist es für junge Leute, wenn es bricht nicht. Aber sie hatte noch Zeit, und ging noch etwas spazieren, dieser Teil der Neustadt war ihr gar nicht so bekannt. Hier und da ein gutes Fotomotiv, aber keine Kamera dabei.

    Na, jetzt wurd’s knapp, gleich wieder zurück zum Theater.

    Circa zwanzig Leute raus aus dem Gebäude, zum Schluss dann Palina.

    Eine innige Umarmung, und Merle fragte: „Wohin?“

    „Na, irgendwo hier in der Nähe gibt’s doch irgendwo was Nettes, bestimmt. Hab morgen meine Premiere und will nicht zu sehr einen draufmachen, und du hast ja sicher auch nicht so viel Zeit, oder?“ antwortete Palina.

    „Irgendwohin tanzen gehen? Was für Musik magst du so?“ kam es jetzt interessiert von Merle.

    „Nein, niemals, ich will mich nicht zu sehr verausgaben, muss für morgen fit sein.“ Irgendwie hatte sie jetzt einen strengen, humorlosen Tonfall drauf. Wohl nicht so selten, wenn es um ihre Schauspielerei ging.

    „Verstehe“ sagte Merle jetzt in ironischem Tonfall. „du bist eine Star-Schauspielerin und darfst dich nicht gehen lassen, musst auf deinen Ruf achten.“ „Haha.“ Böser Blick von Palina.

    Sie gingen in ein kleineres spanisches Restaurant im Ostertorsteinweg. Merle war schon ewig nicht mehr essen gewesen (Rudi ging nie mit ihr aus). Palina schien das Lokal zu kennen, wechselte einige Worte mit der Bedienung, wurde von einigen erkannt. Sie hatten beide keinen großen Hunger und bestellten daher nur ein paar Tapas. Als das Essen servierte wurde, überkam Merle dann doch der Appetit. Sie durfte auch noch die Portion von Palina verputzen.

    Angeregtes Gespräch der beiden, Merle war sehr erfreut das Palina sich auch für Fotografie interessierte. Ihre neue Freundin hing richtig an ihren Lippen als Merle erzählte, dass sie in ihrer Freizeit gerne, bewaffnet mit einer uralten Analog-Kamera, durchs Viertel ging. Eindrücke von tristen Fahrradständern und Waschsalons einfangend. Dass sie das eine oder andere Mal ihre Werke ausgestellt hatte.

    Inzwischen war es schon zehn, und Palina sagte verlegen, dass es bei ihr Zeit fürs Bett wäre.

    „Neulich hatte ich mal eine Verabredung, da ist es ziemlich spät geworden, am nächsten Tag war ich nicht mehr fit bei der Probe, daraus habe ich gelernt.“ Sagte sie in bedrücktem Tonfall.

    „Eine Verabredung? Und…was ernstes?“ kam es von Merle in interessiertem Tonfall.
    „Nein, nee. Ein alter Bekannter aus meiner Schulzeit in Detmold,“ sagte Palina, aber ihre Stimme klang anders.

    Warum war sie eifersüchtig? Weil Palina mit einem Typen einen Abend verbrachte, der ihr anscheinend etwas bedeutete? Manchmal wunderte Merle sich über sich selbst.
    „Merle…hast du Lust ins Kino? Demnächst läuft im City 46 der Neue von Jim Jarmusch.“ ploppte es plötzlich aus Palinas Mund.

    Merle bekam einen Stich ins Herz. Sie ging gern ins Kino. Hatte sogar einen gleichen Lieblingsregisseur. Irgendwo in einer Kiste waren noch einige VHS-Kassetten mit Kaurismäki-Filmen. Ob sie mal mit Palina einen schönen Mädchen-Film-Abend bei einigen Gläsern Rotwein machte?

    „Also, am Samstag um Acht beim City46?“ Merle hatte in ihrem Leben noch nie geweint, jetzt tat sie es. Die Straßenbahn der Freundschaft war abfahrbereit.

  3. #3
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    Knüppel aufn Kopp

    Hamburg ist eine versnobte Drecksstadt, trotzdem wird das heute mein Tag. Viel Kohle mit Taxifahrten gemacht, so dass ich heute theoretisch einen draufmachen könnte. In der selbsternannten Weltstadt sieht zwar alles auf `ne verstrahlte Art schicki-micki-mäßig aus, aber dafür weiß so ein geiler Typ wie ich natürlich wo die coolen Schuppen sind, wo nicht irgendwelche Busfahrerbands aus dem Bierzelt auftreten, sondern wo die Mucke richtig Porno ist, und wo das Bier nicht irgendwelche Hexenpisse ist, sondern wo nur das edelste Gesöff serviert wird. „He, du Papst!“ bölke ich zu dem in den Arsch gefickten Christkind, das mir die Vorfahrt nimmt. Ist wohl in seiner Gummiwelt neidisch, dass mein Taxi ein dicker Bentley ist, und seine Schrottkarre so ne popelige Schüssel. Eigentlich steh ich ja mehr auf Mercedes, aber finde große, fette Autos generell super. Oder affengeil. Oder Porno, wie man heutzutage sagt.


    Na, Freunde der dreckigen Unterhose, ihr fragt euch jetzt, wer ich bin? Ich bin Rainer, Rainer Lange aus Hannover. Taxifahrer. Neben Autos gehören noch Musik, Kunst und Torten zu den Dingen, denen ich gerne fröne. Und mit einer Torte bin ich heute verabredet. Yana heißt sie wohl, Kunststudentin. Aeternitas – das ist mein Sohn – schleppt ja sonst eher Torten an, die eher matschig aussehen…aber mit dieser Yana scheint er 100 Gummipunkte geholt zu haben, die scheint echt ne andere Preisklasse zu sein. Und da Aeternitas sich noch nie für Museen und son Schmodder interessiert hat – vielleicht bin ich der richtige mit dem Mädel mal in Ausstellungen und so was zu gehen? Hatte mit der Torte, mit Yana, vorher noch telefoniert, scheint einen korrekten Musikgeschmack zu haben – Rock, Punk, Indie. Vielleicht frag ich sie noch ob sie mit mir zum Einstürzende-Neubauten-Konzert in der Markthalle geht. Ihre Stimme war jedenfalls großes Tennis, angenehm tief, nicht so Piepsstimmen wie andere Schnitten. Aber sonst konnte man unser Gelaber knicken. Will jetzt nicht schlecht über meine eigene Family sprechen, aber Aeternitas ist echt ein Bernd. Kriegt er schon mal eine Schnitte ab die echt Punkrock, echt 100 Gummipunkte ist, und dann hat er ihr wohl so eine Knüppel-auf-den-Kopp-Band wie TOTENMOND vorgespielt! Klar, dass die Kleine Reißaus nimmt in meine Arme. Ich hab Ahnung von guter Mucke…und von guten Bildern, hehe!


    Bin jetzt in der Bahnhofsgegend angekommen, ganz anders als in Bremen, wo mein Sohn wohnt. Während ich da rund um den Hauptbahnhof schon Läden gesehen habe, in denen es stank wie im sibirischen Männerpuff – wahlweise auch wie Kacke mit Scheiße – waren hier nur so Hotels, Theater und weiß der Wilfried was, megaprotzige Dinger.


    Naja, zur Kunsthalle solls ja gehen. Ich parke meine Karre und…ist sie das? Scheint eher so ne unscheinbare Schönheit zu sein. Eher klein, braune Haare zum Dutt (oder Zopf oder was weiß ich) zusammengebunden, schlabberiger Pulli, dicker Hintern, vom Blick her auch nicht grad `ne Frohnatur. Ihre vollen Lippen sind echt super, echt großes Tennis. Also, eigentlich gar nicht so unscharfe Schnitte, aber irgendwie will sie wohl nicht scharf aussehen. Wir begrüßen uns kurz, dann geht’s schon rein in die Bude. Sooo, erstmal kommt der moderne Shit, das ist meine Welt. Kandinsky, Picasso, der ganze geile Krempel. Ganz großes Pornokino, ganz großer Punkrock. Heute sieht man son Zeug ja in jedem beschissenen Büro und blah und blupp, aber damals war man echt in den Arsch gefickt zur See geschickt, wenn man so gemalt hat. Oder gleich in den Arsch gefickt nach Russland geschickt. Weil die Obermacker an den Unis und wer damals das Sagen hatte sagten: Nee, die alten Schinken mit nackten Torten und son Schlachten-Gedöns und Bibel-Gedöns ist der einzig wahre Stuff. Alles andere sieht matschig aus. Als ich noch Teenie war hab ich mich neben Bier, Autos, Motorrädern hauptsächlich für so was interessiert – zeitgenössische Kunst wie irgendwelche Typen von der Uni das nennen – ich fands einfach nur geil. Manchmal haben meine Kumpels komisch geguckt wenn ich mit sowas ankam, aber im großen und ganzen galt ich schon als cooler Macker. Ob die Kiddies und Bratzen von heute wie Yana hier das auch noch großes Kino finden? Oder was sonst? Noch moderneres Zeug? Keine Ahnung, verfolg nicht mehr so was da abgeht. Besonders viel zu labern scheint sie nicht. Frage mich, worauf sie wohl steht, also nicht was irgendwelches Gepinsel betrifft, sondern, naja, sie scheint etwas gestört zu sein. Warn da nicht sogar ein paar Schnitte auf den Unterarmen?

    Jetzt kommt der ganz kranke Scheiß. Ob sie das jetzt Knüppel aufn Kopp findet, oder großes Pornokino? Irgendwelche Maschinenteile, einfach so als Kunst ausgestellt, haha. Yana zieht ne komische Schnute, scheint das in den Arsch gefickt sonst wohin geschickt zu finden. Bei diesen Maschinendingern muss ich an irgendsone Torte aus der Zeit als ich noch jung war denken, weil sie wohl Brustwarzen wie ein Treckerventil hatte haben wir sie auch alle „Treckerventil“ genannt. Keine Ahnung, ob‘s stimmte, hab nie selbst nachgeguckt. Jetzt Videokunst oder wie man das nennt. So was was Aeternitas „Mackerfilme“ nennt. Irgendwelche Leute von sonst wo, Brasilien oder wie Länder da unten alle heißen, die noch im Dschungel leben, und wilde Tiere mit ihren Dingern, mit ihren Jagddingern kaputt hauen. Tot hauen. Bis sie hin sind. Und das in endloser Wiederholung. Voll Punkrock. In den Arsch gefickter Punkrock. Die Torte guckt mich jetzt an wien Auto – nur nicht so schnell – sie scheint echt entsetzt, dass ich sowas geil finde. Mag man an den Kunstunis jetzt neuerdings noch krasseres Zeug, oder wie, oder was?


    Jetzt kommen die Bilder die ich echt in den Arsch gefickt zur See geschickt finde. Boah, diese alten Schinken. Diese dicken alten Schinken. Von anno sonst was. Kann ich mir nicht angucken. Krieg ich zu viel von. Wie gesagt, ich steh mehr auf den neuen Scheiß, Kandinsky und so. Die find ich Pornokino. Hält man oft für Scheiße für die Massen, weil sie in jeder in den Arsch gefickten Sparkasse oder so hängen…aber wenn man mal genau hinguckt…großer Punkrock! Aber diese alten Macker von anno Tack – sieht für mich aus wie Knüppel aufn Kopp. Yana scheint das jetzt Pornokino zu finden. Ich glotze sieh nochn bisschen an. Ihr Hintern ist gar nicht so dick, aber irgendwie…kanns schwer beschreiben! „Sowas gefällt dir?“ „Ja, finde ich ziemlich genial! Auch Friedrich und die ganzen Romantiker!“ „Jou…wenn du meinst…“ Romantisch ist sie also…hmmm… Sie führt noch etwas aus was sie an modernen Malern mag „Leipziger Schule“ und so, sagt mir alles nix…Bei den ganzen nackten Torten auf den Schinken um mich rum, und da ich ganze Zeit an „Knüppel aufn Kopp“ denke überlege ich was sie wohl von Knüppel aufn Popo hält. Hänge noch etwas in meinen Gedanken rum, aber dann ging mir dieser Museumsführermackertyp auf den Sack. Sah aus wie ein frisch geficktes Eichhörnchen, und laberte einen Blah und Blupp, ein kariertes Zeug, dass ich Ohrenaids kriege.


    Schnell raus aus der Bude. Wollte Yana eigentlich noch fragen ob sie heute Abend mit aufs Konzert kommt, aber nee, doch kein Bock…Als ich noch jung und nicht gefickt war haben wir die alten Macker mit Rock`n`Roll und ähnlichem Scheiß geschockt, und die Jugend von heute? Romantiker, Caspar David Friedrich, „Leipziger Schule“…Oh mein Gott.

  4. #4
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    Musik macht müde Männer munter

    Ohne Musik als Dekoration würde die Zeit nur aus Rechnungen und langweiligen Terminen bestehen.

    Frank Zappa

    In ihrem schnodderigen norddeutschen Tonfall verabschiedete sich Merle Müller von ihrer Kollegin. „Jau, Heike, dir noch frohes Schaffen, lass dich nicht ärgern, ich geh jetzt…auf die Pirsch.“
    Heike guckte ihr lächelnd hinterher. Was sie wohl über Merle dachte, ob sie über irgendwelche Männergeschichten spekulierte?

    Unsere Protagonistin trat raus aus ihrer Photo-Dose-Filiale, in die Straßenbahnlinie 10 und fuhr zu einem…nun ja…Rendezvous. Beim Speeddating in diesem einen Gasthof in Tostedt waren viele Männer, die sie nicht uninteressant fand – seien es nerdige Eigenbrötler, seien es langhaarige Rockertypen. Aber heute traf sie sich mit Ralf, einem etwas sachlich wirkenden Filialleiter. Ob unter der trocken wirkenden Fassade mehr steckte?

    Merle trat aus der Bahn und klingelte bei „Peters“. Ralf wohnte wie sie im „Viertel“, also der östlichen Vorstadt von Bremen. Allerdings in dem Teil hinter der Bismarckstraße, wo sich die Fachwelt stritt, ob es überhaupt noch dazugehörte, oder schon Schwachhausen war.


    Klar, Ralf war ein Mittfünfziger, der es interessant fand, einmal eine jüngere Frau zu treffen. Aber vielleicht war Merle ihm zu wild, er mochte eventuell nichts Punkiges? Mögen Filialleiter von Supermarktketten Tattoos? Was hören Männer in dieser Position für Musik? Was wenn Ralf sich gar keine Interessen mit ihr teilte? Sondern nur Hobbys wie Briefmarkensammeln, Modeleisenbahn, oder so etwas ödes hatte?

    Die Wohnung von Ralf Peters war erwartungsgemäß einfallslos eingerichtet. Irgendwelche billigen Kunstdrucke mit Obstschalen, die Möbel lieb- und wahllos aus dem IKEA-Katalog zusammengesucht. Er führte sie zum Sofa und bot ihr einen Drink an. Nichts Besonderes, wohl alles aus dem Supermarkt in dem er arbeitete – Orangensaft, auch Whisky und Bier. Merle wusste einen guten Tropfen durchaus zu schätzen, war aber an sich nicht anspruchsvoll. (Sie war an sich auch einem guten Joint nicht abgeneigt, ob Ralf für sowas offen ist? Vielleicht war er es in jungen Jahren?) Vor ihnen stand ein ziemlich großer Fernseher, sie versuchte zu entziffern was auf den VHS-Kassetten drunter stand. Sie nahm etwas von dem Knabberzeug, welches vor ihr stand (er hatte auf dem Couchtisch kleine Schälchen mit Chips, Salzstangen und Keksen platziert). Um überhaupt über etwas zu reden, fing sie ein Gespräch darüber an, dass sie beide im Einzelhandel arbeiten. Augenblicklich taute Ralf auf. Jetzt war er in seinem Element. Mit leuchtenden Augen ging es jetzt um Lieferengpässe, nervige Kunden. Zahlen, Zahlen, Zahlen.


    Merle taute auch auf, es gefiel ihr mit einem Mann Interessen zu teilen. Ob sie näher an ihn heranrückensollte? Sie spürte ein Jucken in den Fingern ihre Hand mit den schwarzlackierten Fingernägeln auf sein Knie zu legen...doch ließ es dann bleiben. Wenn sie ihn jetzt küssen würde? Aber wir wollen mal nicht übertreiben. Wann er wohl das letzte Mal einer Frau so nahe kam? Merle nahm sich noch ein paar Erdnüsse. Unterkühlte Romantik vor IKEA-Kulisse, hat ja auch was. Sie fragte ihn, ob er eine Cola wollte, mixte ihm dann eine Whisky-Cola. Alkohol hatte ja schon vieles einfacher, offener gemacht. Nicht dass Sie sich sofort an ihn ranmachen wollte! Merle selbst genehmigte sich denselben Drink. Ob man hier rauchen darf? Bisher mochte sie eigentlich selbstbewusste Männer. Solche die mit beiden Beinen im Leben standen. Gar nicht so sehr vergeistigte Typen, mehr Handwerker oder so. Aber seit einiger Zeit verlor sie ihre Begeisterung dafür. Sie fand es spannend sich mehr für die Schüchternen, Langweiligen zu interessieren. Klar, das waren dann genau die die dann unglaublich stolz darauf waren, dass die „die heiße Lady“ oder „die Emanze“ auf „sie stand“. Aber irgendwie ehrte war das auch eine Ehre.

    „Was magst du denn …Sport? Filme? Musik?“ Merle klang jetzt irgendwas zwischen genervt, angespannt, erwartungsvoll. Sie wollte vor allem wissen, warum sie sich hier vor diesem riesigen Fernseher eingefunden haben. Normalerweise war Ralf Peters in keinerlei Hinsicht ihr Typ. Sie mochte Rockertypen, langhaarige Motorradfahrer mit Band-Shirts. Hier wusste sie jetzt gar nicht wie sie anfangen sollte. Vergeht einem, wenn man jeden Tag im weißen Kittel zwischen Gurken und Tomaten steht, und man vom weiblichen Geschlecht hauptsächlich Verkäuferinnen die sich mit „Frau Müller, kannst du noch mal `ne Kasse aufmachen“ ansprechen jede Sexualität? Nicht dass ihr sofort sowas einfallen würde, wenn sie mal ein Rendezvous hatte…Wenn sie in ihrem Lieblingslokalen wie dem „Rum Bumpers“ oder dem „Tower“ an der Bar saß wusste sie genau wie sie die Kerle auf sich aufmerksam macht. Aber hier? Es gab viele Typen, die auf ihre Mischung aus Lady und Kumpel abfuhren, die gerade selbstbewusste Frauen mochten. Und – zugegebenermaßen – wusste sie auch damit zu spielen, wusste sie dies auch gezielt einzusetzen. „Ähm..Ja, ich gehe schon manchmal ins Kino. Mag dann vor allem Action-Filme, Pearl Harbour und so. Aber am liebsten mag ich halt Musik.“ kam es jetzt aus Ralf raus. Merle wurde hellhörig. Sie selbst liebte Musik – The Smiths, Nick Cave, Iggy Pop, Johnny Cash, Pixies. Quer durch die Bank wie man so schön sagt. Sie hatte nie verstanden, dass es Leute gibt, die sich nicht für Musik interessieren, Neben Fotografie ihre große Leidenschaft. „Was hörst du da so?“ fragte Sie. Ralfs Blick verklärte sich. „Rockmusik. Am liebsten ehrlich und handgemacht.“ Dies jetzt in einem Tonfall der zum ersten Mal so etwas wie Begeisterung vermuten ließ. Was genau er wohl meinte? „Kannst du mal n Paar Bands nennen, kann ich mir im Moment nicht richtig was drunter vorstellen?“ Ehrlich neugierige Frage von Merle. „Na, die großen Bands der späten Siebziger, frühen Achtziger…Journey, REO Speed Waggon, Grand Funk Railroad, Styx, Saga, Boston. Das war noch echte Musik, das waren noch echte Könner.“ Ein aufrichtiges Leuchten in seinen Augen. „Hmmm…“ echte Neugier jetzt von Merle „und was davon ist deine Lieblingsband?“ Feuchte Augen bei ihm. „TOTO!“ „Toto?“ überlegte Merle laut. Ralf stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben, dass der Name ihr völlig unbekannt schien. Obwohl, sie überlegte ja. „Wollte jetzt eigentlich die Live-DVD mit dir gucken. Hatte den Eindruck, dass du auch Rockmusik magst.“ Sie schwieg. Ihr versteinertes Gesicht schien für ihn undeutbar. Er nahm ein Album aus dem Regal unter dem Fernseher. „Hier guck mal.“ Jetzt rannen ihm Tränen der Rührung über die Wangen. „Hier, ich mit Bobby Kimball, dem Sänger von Toto!“ Ein Foto, darauf ein viel jüngerer Ralf zusammen mit einem pausbäckigen Schnauzbarträger mit Lederweste. „Hier Steve Lukather, der Gitarrist. Das ist Simon Philipps, der Schlagzeuger.“ Er blätterte um, als würde er jetzt zum Heiligtum kommen. Ralf Arm in Arm mit einem grauhaarigen Typen mit getönter Brille. „Das ist Steve Porcaro“. Dann, ganz andächtig, die Stimme senkend „der Keyboarder von Toto.“ Mehr als offensichtlich sein absolutes Idol.

    Merle fragte sich schon seit sie die Wohnung betrat, was in der Ecke des Wohnzimmers von einer braunkarierten Decke abgedeckt war. Ralf legte das fragliche Ding jetzt frei, es war, tata, EIN KEYBOARD! Die Finger hämmernd in die Tasten, dazu Gesang „I hear the drums echoing tonight But she hears only whispers of some quiet conversation She’s coming in, 12:30 flight The moonlit wings reflects the stars that guide me towards salvation!” Was für ein bizarres Schauspiel. Ein fast sechzigjähriger Durchschnittstyp mit ausrasiertem Haarkranz, kariertem Hemd, Jeans, der bei einem banalen Rocksong in Exstase gerät.

    Inzwischen hatte sie natürlich jedes wie auch immer geartetes Interesse an ihm verloren. Seine Begeisterung für Musik war ihr auf jeden Fall sympathisch, es gefiel ihr, dass unter der korrekten Schale eine Art Rocker-Kern zu stecken schien. Aber wenn Rock, warum dann Toto? Merle war tolerant, mochte sogar ein paar Songs von U2 – aber irgendwann hat Musikbegeisterung auch nichts sinnliches mehr an sich. Weder Punk noch Industrial, auch kein Elektro, usw. ist das alles an ihm vorbeigezogen? Nur Mainstreamrock? Wie würde ihr soziales Umfeld reagieren, wenn sie mit so einem Typen gesehen werden würde?

    Merle beschloss doch noch einen guten Abend zu haben, mit Ralf zusammen eine Toto-Live-DVD zu genießen, mit Faszination für seine Begeisterung für diese Band sich noch ein paar Drinks zu genehmigen. Als sie Ralf scherzhaft fragte, ob sie sich einen Joint anzünden dürfte, erzählte dieser, dass er früher gerne die Scorpions bekifft gehört hat. Sie fand das lustig und gab ihm ebenso scherzhaft noch ein paar Küsse. Irgendwann dann die Frage im Raum, ein weiteres Treffen? – um Konzertfilme zu sehen, oder einfach so.

    Sie beschloss offen und ehrlich zu sein. „Ralf…irgendwie mag ich dich…und wollte mich bei dir auch für diesen schönen Abend bedanken. Aber irgendwie passen wir nicht zueinander.“ Mit einem schelmischen Lächeln: „Du kannst ja deinen Kollegen bei Edeka erzählen mit was für einer Traumfrau du einen Abend verbracht hast.“

    Zu ihrer Überraschung lächelte er. „Danke das du wegen Toto stark geblieben bist.“ Oha, soviel Selbstironie, anscheinend musste er sich wegen seiner Lieblingscombo schon häufiger was anhören. Beide lachten. „Ich erzähle jedem, dass du mich damit gequält hast, dass du mich an einen Marterpfahl gefesselt hast und mich gezwungen hast Toto bei 120 Dezibel zu hören!“

    Naja, ein bisschen schien er jetzt doch gekränkt. Vielleicht hatte er sich doch schon einige Hänseleien anhören müssen. Oder aber er war doch getroffen dass er von Merle abgewiesen wurde. Er, der wahrscheinlich mehr Geld auf dem Konto hatte als alle Männer, mit denen sie bislang zu tun hatte. Er, der sich für den größten Musik-Fan des Planeten hielt – auch wenn er keine Ahnung was nach ca. 1987 noch neues passiert ist. Er, der sich fragte, warum ein Filialleiter einer führenden deutschen Supermarktkette so viel Flaute im Bett hat. Ralf tat ihr leid, und so sagte sie „Wir können uns ja nochmal treffen? Den Musikgeschmack teilen wir wohl nicht, aber vielleicht mal auf ein Bier irgendwo…Oder du kommst mal vorbei, wenn ich wieder eine Fotoausstellung habe.“

    „Ja, vielleicht.“ Und Tür zu.

    Und nun? Nach Hause, sich durchs langweilige Fernsehprogramm quälen? Spaziergang? Oder in irgendeinem Laden absacken, vielleicht sieht man auch ein paar bekannte Gesichter? Ein Bedürfnis: Sofort zu Nils, dem Vater ihrer Tochter Steffi. Sie hatte ihn seit ihrer Jugendzeit nicht mehr gesehen, hatte aber wohl mitbekommen, dass er inzwischen in Bremen lebte. Sie wusste gar nicht wieso, aber irgendwie hatte sie das etwas destruktive Gefühl wieder zurück in alte Zeiten zu gehen.

    Als sie klingelte öffnete ihr ein großer schlaksiger Typ mit roten Locken. Von dem Steffi ihre Figur hatte. Begehrte sie ihn immer noch? Sie wusste ehrlich gesagt gar nicht was er jetzt machte. Irgendwie wirkte er seriös. Lehrer vielleicht? Körperlich fand sie ihn interessanterweise überhaupt nicht mehr anziehend – aber ob sie sich auf einer geistigen Ebene noch trafen? Was waren damals noch mal ihre gemeinsamen Interessen?

    Zu ihrer Überraschung bat er sie herein und fragte sie, ob sie Kaffee oder Tee wolle. Bier wollte sie sagen, aber entschied sich dann doch für Tee. Während sie die Tasse an ihre Lippen führte, betrachtete sie Nils, und war ihrer Gefühle nicht mehr ganz sicher. Eigentlich kein unattraktiver Mann, er hatte eine intellektuelle Ausstrahlung, die die meisten Männer die Merle nach ihm hatte, nicht hatten. Steffi kam ihn vielerlei Hinsicht nach ihm. Irgendwie überkam sie jetzt doch die Lust sich ihm auf dem Boden hinzugeben, um ein weiteres Kind mit ihm zu zeugen. Aber ihn wohl nicht. Im Hintergrund sah sie zwei gerahmte Fotos von zwei süßen kleinen Kindern, ein Junge, ein Mädchen – die werden wohl auch eine Mutter haben.

    Er schien überhaupt nicht verwundert, dass sie zu so später Stunde bei ihm hereinschneite. Schien eher an alten Zeiten interessiert. „Du warst ja damals in ganz Bremerhaven als die Königin des Mülleimeranzündens bekannt.“ Jetzt musste sie doch lächeln. Irgendwie kam ihr, was sie damals trieb, heute ziemlich kindisch vor – aber genauso irgendwie überkam sie auch eine Nostalgie. „Weißt du noch wie wir damals vor den Bullen weggelaufen sind?“ fragte Nils jetzt. Wenn sie ihn jetzt betrachtete, wurde sie richtig scharf. Diese rote Haarpracht, die schon von einzelnen grauen Strähnen durchzogen war. Diese Nickelbrille, die ihm so einen gebildeten Anstrich gab. Die hohen Wangenknochen. Selbst der spillerige Körper störte sie bei ihm überhaupt nicht. Er war damals der der absolut Klassenbeste, hatte aber überhaupt nicht die Ausstrahlung eines Strebers, sondern wirkte selbst dabei noch irgendwie cool. Sicher waren alle Mädels in der Schule neidisch dass sie mit ihm Sex hatte, aber sie war ja auch die lässigste. Die erste Raucherin, die erste Kifferin, die erste mit Tatoo, die mit dem coolsten Musikgeschmack. „Ja. Ja. Hehe. Kann ich mich noch gut dran erinnern.“ erwiderte er. Er lächelte in seine Teetasse, als ob er noch etwas in Erinnerungen schwelgen würde – ob er selbst jetzt auch etwas scharf auf sie war? – fragte dann relativ unvermittelt: „Und? Was hast du heute so gemacht? Mülleimer zündest du ja wohl keine mehr an…“ Sie lehnte sich zurück – ihre Erregung nahm jetzt etwas ab – und führte aus: „Nun, heute Morgen gearbeitet, aber für den Rest des Tages hatte ich mir freigenommen. Hatte bei so einem Speed Dating teilgenommen, und naja..mein Dating wohl etwas versemmelt.“ Ob ihn das eifersüchtig machte? Klar, er hatte sicher eine bezaubernde Frau jetzt – aber sie konnte sich nicht vorstellen dass er nicht immer noch ein bisschen scharf auf sie war. Beim Wort „Speed Dating“ horchte Nils schon etwas auf, beim letzten dann komplett. „Wie, was war denn da?“ meinte er überraschend ernst. „Naja“ meinte Merle „das war so ein komischer Typ – irgendwie hohes Tier bei Edeka glaube ich – dachte das unter seiner langweiligen Schale noch mehr steckt…und dann hört er TOTO! Kennst du die Band? Irgendwie lächerlich, oder?“ Nils blickte jetzt sehr ernst. Sie konnte sich erinnern, dass er eher intellektuelle Musik hörte und selbst ihre Vorliebe für Rock, Punk, Metal eher belächelte. „Das ist mal wieder typisch für dich. Was weißt du denn über deine Bekanntschaft, außer dass er eine Band hört, die du nicht magst?“ Merles Gesicht zeigte ernsthaftes Erstaunen. „Äh. Ich glaube ich kann mir ganz gut einen Eindruck davon was für ein Typ er war.“ sagte sie jetzt. „Wenn ich nur an die hässlichen Bilder an seiner Wand denke…“ Höhnisches Lachen jetzt von Nils. „Als ob du die Kunstexpertin wärst!“ Er ist wohl tatsächlich Lehrer. Oberlehrer. Nils fuhr fort, in sarkastischem Tonfall: „Aber so kennt man dich. So warst du schon als Teenie-Mädchen. Damals in deiner Gang.“ Merles Blick versteinerte sich jetzt. „Ach ja?“ murrte sie. „Jaja“ meinte Nils „du hattest damals die komische Attitüde wir müssen alle solidarischer werden, Solidarität hier und da, mehr Gemeinschaft und und und, und warst selber die egoistischste Henne, die man sich vorstellen kann.“ Da fiel Merle nichts mehr ein und sie blickte betreten in ihre Tasse. „Und hier ist das doch das Gleiche“ fuhr Nils jetzt fort „du wirst diesem Typen, mit dem du dich getroffen hast vor oberflächlichen Geschmack zu haben, was als Beurteilung selbst wieder total oberflächlich ist.“ „Moment…“ wollte Merle mit erhobener Hand erwidern, doch ihre Worte verpufften ungesagt. Irgendwie war sie gleichzeitig peinlich berührt und genervt von Nils‘ Besserwisserei. Merle ging nicht darauf ein und fuhr schroff dazwischen: „Was hast du mit Steffi zu tun?“ „Nun“ sagte Nils „ich bin mit ihr in ganz gutem Kontakt, Wusstest du das nicht?“ Merle wurde jetzt noch blasser als sie ohnehin schon war. Zitternd setzte sie ihre Teetasse ab. „Nein, wusste ich tatsächlich nicht. Was besprecht ihr denn so?“ Nils schien irgendwie belustigt über Merles Wortwahl. „Was besprecht ihr denn so? So drückst du dich aus? Aber wenn du’s unbedingt wissen willst: Darüber mit wem unsere Tochter so ihre Freizeit gestaltet.“ Nils wurde wieder süffisant und sarkastisch: „Ja, mit einer Dame, die du glaube ich auch kennst, von diesem ominösen Speed-Dating: Samira oder so ähnlich heißt sie glaube ich.“ Merle blicke auf: „Samineh, na klar, ist mir bekannt. Was genau findest du jetzt besonders erwähnenswert daran?“ Nils verschränkte seine Arme, lehnte sich zurück und meinte: „Nun, ich vermute auch du hast dir schon Gedanken darüber gemacht, wie es mit dem Liebesleben von unserem Töchterchen aussieht, oder?“ „Ähm, ja?“ entfuhr es Merle. Nils fuhr fort: „Ich habe den Eindruck, dass sich zwischen den beiden so etwas wie eine…zarte Bande andeutet.“

    Jetzt musste Merle überlegen. War Nils so viel mehr mit Steffi verbunden, dass er so etwas besser beurteilen konnte als sie? Was machte das mit ihr, wurde ihr ihre Tochter jetzt noch fremder? Und wenn ja warum? Sie hatte bestimmt nichts dagegen, wenn eine Frau mit einer Frau, und nein nein nein auch nichts dagegen wenn eine der beiden Frauen Migrationshintergrund hat. Aber was brachte ihre Gedanken und Gefühle in chaotische Gefilde? Beim eigenen Kind ist es nochmal was…nein…Samineh…was für einen Eindruck hatte sie überhaupt von ihr?

    Merle verabschiedete sich von Nils und suchte draußen in ihrem Handy die Nummer von Steffi.

  5. #5
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    Weisheiten aus dem Landleben.

    I like smoke and lightning Heavy metal thunder Racin’ with the wind and the feelin’ that I’m under
    Steppenwolf “Born to Be Wild”

    Ich laufe mit Aeternitas. Einem Jungen aus der Stadt den ich beim Speed-Dating kennengelernt habe. Durch Brakenhorn. Brakenhorn – Dörfchen in der norddeutschen Tiefebene. Oben ein klarer, blauer Himmel. Mit etwas Fantasie glaubt man dort die Göttinnen, Götter und Helden der nordischen Sagenwelt zu entdecken.

    Aeternitas. Ein blasses Bürschchen. Fettige Haare. Unreine, kränklich wirkende Haut. Den immer gleichen Schal um den Hals. Dumpfer, glasiger Blick. Mehr Aal als Mensch, dann sein Musikgeschmack. Nirvana, irgendwelche Bands die ich nicht kenne. Bestimmt hört er so was wie Hip Hop, Unmusik, neumodisches Gedudel, völlig unbekannt auf dem Land.

    Bauernhäuser. Den Geist von Jahrhunderten atmend. Die Seelen von uralten Geschlechtern bildeten das Fundament. Daneben Einfamilienhäuser, wie aus dem Katalog, die Gegend völlig entstellend.

    Der Junge neben mir. Bedauernswerter Bursche aus der Stadt. Kennt das Landleben nicht.

    Alles sehr beschaulich, sehr still (bis auf hier und da mal Hundegekläff), etwas Geruch von Mist in der Luft.

    Ich erzähle Aeternitas von meiner Gang: „Ganz Brakenhorn im Ausnahmezustand, wenn wir im Anmarsch waren.“

    Die Dorfstraße hinunter, vorbei am Edeka des Ortes. Immer mehr Häuser. Vor jedem Haus ein protziger Mercedes oder ein Bauernporsche. Über eine Wiese mit Heuballen. Rüber über den Zaun, durchs Gras marschiert. Im Hintergrund Wald, ebene Landschaft.

    Mein Kumpan neben mir lauscht gespannt als ich ihm erzähle, dass wir damals am meisten saufen konnten von allen. Drogen kannte niemand von uns.

    Tiefe Trauer bei mir. Melancholie. Gedanken an das endgültige Ende der Jugendzeit, die nur noch in Erzählungen wie dieser weiterlebt. Was ist Aeternitas Zugang dazu? Den Zauber, die Magie, die die Gerüche von Dorffeuerwehrplätzen, Leder, Festivalbier? Versteht ein Stadtkind so etwas?

    „Ich samt Gang waren nicht nur die größten Saufhelden der gesamten norddeutschen Tiefebene. Nein, jede Schlägerei haben wir für uns entschieden.“ Aeternitas wirkt immer noch ziemlich teilnahmslos. Aber unter seiner Miene war er sicher beeindruckt.

    Vorbei an einer Holzhütte, in der Ecke des Weidelandes. Sternenklarer Himmel.

    Ich erzählte meinem Begleiter von Heike, der Blondine, in die ich verschossen war. „Ein echter Ladykiller wie meine Wenigkeit weiß natürlich wie er mit den Damen reden muss. Ich gab ihr einige Kostproben meines Humors. Ein Kondom über den Kopf ziehen, um es dann mit der Nase aufzublasen. Sowie auf meinem Bierbauch mit bloßen Händen die schönsten Melodien meiner Lieblings-Metal-Bands zu trommeln. Ich glaube damals konnte sie die große Kunst, die ich ihr dargeboten habe, noch nicht ganz erfassen. Sie hatte sich seitdem (war vor einigen Jahren) nicht mehr gemeldet, kommt sicher noch.“

    Oben am Himmel die Sternzeichen, welche das wohl genau sind?

    „Dann Kerstin, die mit den großen ****** aus der Parallelklasse. Sie schien beeindruckt als ich ihr von unseren Erlebnissen als die größten Schläger, Säufer der gesamten schleswig-holsteinischen Tiefebene erzählte.“ Klar, ihr Gesichtseindruck sah vielleicht etwas anders aus. Hier im Norden sind die Leute halt häufig Begeisterungsminimalisten. Sah man ja an dem Niedersachsen Aeternitas.

    Was für ein Bild jetzt. Die Silhouette des Nadelwaldes vor dem schwarzen, von weißen Sternen wie durchlöcherten Himmel!

    Man wusste ja nie was er dachte, aber Aeternitas schien richtig gierig nach weiteren Frauengeschichten von mir. Nur so eine Vermutung von mir. „Hab einmal auf unserem Dorffeuerwehrfest eine Gruppe ziemlich aufgedonnerter Damen angesprochen. Eine davon – eine gewisse Leonie – nahm ich mit nach Hause.“ Erfuhr später, dass sie erst 14 war, aber egal. Muss Aeternitas ja nicht erzählen was ich mit ihr gemacht habe.

    Eine Eule kreischt.

    „Aber reifere Damen weiß ich zu bezirzen! So Hiltrud, die Gattin unseres Pastors! Eine stattliche Dame, mit großem Busen, würdevoll ergrautem Haar. Obwohl ich mich eher dem Neuheidentum hingezogen fühle, machte ich eine Zeitlang auf frommer Christ. Ließ mir von ihr im Pfarrhaus privaten Katechismus-Unterricht geben. Brachte bei jedem unserer Treffen Pralinen oder Blumen mit. Sie freute sich jedes Mal, aber konnte natürlich wegen ihrem Gatten nie auf meine Avancen eingehen. Aber insgeheim habe ich sicher ihr Herz erfreut, da war ich sicher!“

    Vorbei an Grundstücken, freistehende Häuser, mit Apfel-Birnen- oder Pflaumenbäumen. Deren Früchte herrlich dufteten. Bei den Gerüchen wusste ich, sowas gibt es nur auf dem Dorf. Sowas gibt es nicht in der Stadt. Daher würde ich mich Brakenhorn immer verbunden fühlen. Die Mondsichel schob sich jetzt hinter der Landschaft hervor. Alles fing jetzt an zu leuchten, zu flimmern, richtig bunt war es. Waren da nicht auch einige Gestalten zwischen den Tannen zu erkennen?

    „Ob ich immer so erfolgreich bei den Ladys war, wie bisher geschildert? Nun, einmal hatte ich einen Reinfall, als ich mich in die von mir verhasste große Stadt begab. In irgendeinem Lokal namens „Morast“ glaubte ich meine absolute Traumfrau gesehen zu haben: Groß, rassig, vollbusig, wahnsinnig schick angezogen. Tiefe Stimme. Uschi der Name. Weißt du was? Ich wusste sie zu bezirzen! Ich das Dorfkind! Als wir uns ins Hinterzimmer des Schuppens verzogen dann der Schock: Bei besserem Lichte sah ich einen Bartschatten, einen Adamsapfel, die Stimme kam mir noch etwas tiefer vor. Uschi offenbarte mir, dass sie in Wirklichkeit Klaus-Dieter hieß.“

    Das Flimmern war vorbei. Aber aus dem Dickicht waren tatsächlich Gestalten hervorgekrochen. Wölfe, Wildschweine, Rehe, die sich gegenseitig angriffen. Sich ineinander verkeilten. Welch ein Schauspiel der Natur.

    Ich konnte nicht mehr an mich halten, fragte Aeternitas die Frage aller Fragen: „Nun, mein Junge, welche Musik hörst du so?“ Die Band-Namen ploppten aus ihm heraus: „The Smiths. Nick Cave. Iggy Pop. Johnny Cash. Pixies. Element Of Crime. Nirvana.” Außer Nirvana kannte ich nichts davon. Was für Klänge hört man denn in der Großstadt. Das klingt mehr nach Stadt, Land, Frust als nach Stadt, Land, Genuss.

    Da musste ich zu einer Rede anheben: „Aeternitas…kennst du die Gruppe BOLZENSCHNEIDER?“ Aeternitas schüttelte gewohnt teilnahmslos den Kopf. Ich tat es ihm nach, wie ungebildet kann man sein?

    Meine Stimme schwoll zur feierlichen Ansprache an: „BOLZENSCHNEIDER wurden 1982 in einem kleinen Dorf im Sauerland gegründet. Die fünf Jungmetaller wollten mit ihrer Band zum einen einen gesellschaftlichen Gegenentwurf zu der Einöde des Landlebens bieten, andererseits aber auch der New Wave Of British Heavy Metal etwas entgegensetzen.“

    Ob ihn das interessierte, gar berührte? Schwer zu sagen, er stierte so wie immer.

    Einige Zeitlang kamen wir wieder an der Bundesstraße vorbei. Jetzt in der Nacht war diese natürlich wie ausgestorben. Aber tagsüber fuhr hier natürlich alles Mögliche drüber: Trecker, Gülle-Transporter, Motorrad-Clubs die sich für Rocker hielten. Familien aus der Stadt, die ihren Kindern mal einen Urlaub auf dem Bauernhof gönnen wollten.

    Ich fuhr fort: „Auf ihrem Debüt-Album MÄHDRESCHER DES TODES spielten sie noch Speed Metal, doch bereits auf dem Nachfolger SATANS HACKFLEISCH folgte eine Hinwendung zu den Klängen des Black Metals, was auf den Einfluss des aus Norwegen stammenden Bandmitglieds Olafur Svenbjörnsson genannt Pincers zurückzuführen sein dürfte.“

    Wir gingen jetzt durch ein Stückchen Wald, traten auf einige Zweige. Am Himmel sah man jetzt die Mondsichel. Wie aus einem der Gemälde mit Wölfen an Bergseen, die ich so liebte.

    Ob Aeternitas weiß was Speed Metal oder Black Metal überhaupt ist? Egal. „Pincers wurde ausgewiesen, nachdem er im satanistischen Wahn das Gemeindehaus der örtlichen katholischen Kirchengemeinde in Brand gesetzt hatte. Danach wandten sich „Bolzenschneider“ eher dem True Metal zu. Sorgten mit Statements wie „Tod dem falschen Metal“ für Irritationen in der Szene.“

    Der Entfernungsmesser in meinem Kopf führte mich zum nächsten Gebäude. Ein Haus, daneben mehrere Scheunen, landwirtschaftliche Geräte, Geruch nach Mist. Der Hof von Bauer Hinnerksen. Ich war inzwischen müde, ob ich mal klingeln und nach einem Kaffee fragen sollte?


    Aber nein, es ist wichtiger Aeternitas alles über die wichtigste Band der gesamten Musikgeschichte wissen zu lasen. Ich fuhr fort: „Als sich bei BOLZENSCHNEIDER kein weiterer Erfolg einstellte, das Köpfen diverser Tiere auf Live-Konzerten (Hühner, Fledermäuse, Schafe, Meerschweinchen, Marienkäfer) zu keiner weiteren Aufmerksamkeit führte, folgte eine wahre Odyssee der Stile: Neben so bekannten wie Death Metal, Melodic Death Metal, Nu Metal, Gothic Metal, Doom Metal, Thrash Metal, Power Metal, Progressive Metal Eigenkreationen wie Smooth Metal, Roots Metal, Brit Metal, Mod Metal, Indie Metal, Post Metal, Minimal Metal, Noise Metal, Adult Oriented Metal, Balkan Metal, Bubblegum Metal, Disco Metal, Ethno Metal, Ska Metal oder auch Freestyle Metal.“

    Wir betraten den Dorfgasthof. Ein Backsteingebäude, davor eine Lokomotive. Normalerweise trafen sich hier irgendwelche alten Oppis, mit Cordhut oder Elbsegler, die Schlager oder Volkslieder hörten. Drinnen ein ziemlich kahler Raum, Vitrine samt Schränken aus den Sechzigern oder Siebzigern. Jedenfalls in dem Stil gehalten. Etwas schäbig. Irgendwo in der Ecke hingen ein paar Bilder an der Wand, irgendwelche Urkunden, was weiß ich, so Stahlstiche (so heißt das glaube ich) vom alten Brakenhorn. Dann so Schwarzweiß-Fotos. Das einzig originelle in dem Haus sind die Deckenleuchter. Diese sind nämlich aus Kuhglocken gemacht.

    Wenn er sich überhaupt mal etwas fragt, fragt sich Aeternitas sicher was er hier soll. Hat immer noch die Nebelkrähe im Nacken. Nun, ich führe ihn zu dem Tresen. Überreiche ihm ein Bolzenschneider-T-Shirt mit den feierlichen Worten: „Du kannst niemandem vertrauen Aeternitas, weder Männern, noch Frauen, noch Tieren. Nur BOLZENSCHNEIDER kannst du vertrauen.“ Er zog sich das Kleidungsstück über. Wie durch ein Wunder wurde seine Haut frischer, das Fett verflüchtigte sich aus seinen Haaren, sämtliche Mitesser verschwanden, sein Blick wurde hellwach, der spackige Schal löste sich von ganz allein von seinem Hals.

    Da er nun geheilt war von schlechtem Musikgeschmack, drehte ich die Anlage auf. Wir tanzten bis tief in die Nacht zu brachialen Songs wie „Mein Schwert heißt Siegeswille“, „Satans Hackfleisch“, „Die Engel der Hölle werden dich holen“ oder „Schlacht der Schlächter“.

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