Ist dies der Beginn einer wunderbaren Freundschaft?
Am nächsten Morgen war sie nach innerer Zerknirschung wieder die Alte. Was musste Merle auch einen auf Klugscheißerin machen. Klar dass Rudi da etwas angepisst reagierte. Kann nicht jeder so einen erlesenen Musikgeschmack haben wie sie. Solange er damit leben konnte nur eine Band zu hören ist doch alles gut.
Alles wieder ok, dachte Merle, nur kein Stress in der Beziehung. Sie war ja sonst froh endlich mal wieder einen Mann an ihrer Seite zu haben. Einen richtigen…Kerl. Kein Möchtegern-Pornorapper der bei Mama wohnt. Kein gestörter (vielleicht sogar zurückgebliebener?) Gruftie-Typ mit Hygiene-Problemen. Von den Männern, Jungs, die sie sonst im Leben hatte, mal ganz zu schweigen…Einfach ein solider Typ mit gutem Job sowie stabilen Körperbau. Vielen Tattoos (ob sie sich weitere machen sollte?). Nur seine musikalischen Vorlieben…waren halt auf nur eine Band beschränkt.
Heute war sie nicht in Stimmung rauszugehen. Ging nicht ans Telefon und nichts. Nur ihre Tochter dürfte eventuell anrufen.
Aber Steffi meldete sich nicht. Merle schlief zehn Stunden wie ein Stein und wachte abends um sechs auf. Sie drehte und wendete sich etwas unter ihrer Bettdecke und ging dann raus.
Duschen, Abendbrot, eigentlich ein Frühstück zu später Stunde. Ei, Marmeladenbrötchen, Kaffee, war ihr jetzt gerade nach.
Da die vielen Konzerte, die Merle jedes Wochenende besuchte Geld kosten, hatte sie nach ihrer Arbeit bei Photo Dose einen Nebenjob bei einer Tankstelle. eigentlich muss sie da auch hin. Aber die Nachtschicht fängt erst in ein paar Stunden an. Merle muss irgendwie zusehen, wie sie die Zeit totschlägt. Im Kino lief nichts Spannendes. Auf einen Absacker in irgendeinem Laden hatte sie keine Lust.
Keine Ahnung, ob sie sich hier im Viertel überhaupt wohl fühlt. Merle Müller, Fisch im Wasser. Dann wieder Merle Müller, Putenschnitzel im Streichelzoo. A Spacegirl In Exile. Nadeln in der Seele.
Das Viertel. Alternativste, hippste Gegend von ganz Bremen. Das kleinste Bundesland, sonst im Schatten von Hamburg, außerhalb der Touristenmagnete eher grau und uncool. Und dann diese geballte, stadteilgewordene Faust, hämmernd ans Tor zur Welt. Aber so cool, dass wirkliche Hipster schon wieder die Nase rümpfen. Irgendwann in den 60er oder 70er Jahren bei ihren Räucherstäbchenfantasien stehengebliebene Altmaoisten, deren Kinder, Enkelkinder. Denen die Sorte Verzweiflung innenwohnte, welche die Leute früher in die Wüste trieb, aber diese war für sie die östliche Vorstadt. Man hatte ihnen als Kindern das Ende der Welt versprochen, dann waren sie enttäuscht, dass sie es nicht bekamen. Nur das Viertel, deren Bewohner die Vision der Bauherren nicht mehr verstanden.
Palina, Gedanken an diese Dame. Eine Teilnehmerin beim Speed-Dating in Tostedt. Als Schauspielerin gehört Singen zur Ausbildung. Man kann sich mit ihr sicher gut über Musik unterhalten.
Aus irgendeinem Impuls heraus beschloss sie diese Palina anzurufen. Keine Ahnung warum, Hauptsache dieser unsägliche Lucas nervte nicht mehr. Dieser Möchtegern-Rapper der noch bei seiner Mama wohnt und Merle unbedingt als Aktmodell haben will.
Keine Rückmeldung. Ob Palina wegen irgendwas sauer auf Merle war? Dabei ging doch von ihr der Impuls aus sich mal wieder zu treffen. Jetzt ging sie nicht dran?
In Merles Kopf wieder Gedanken an Palina. Diesmal an die Tatsache, dass sie ihr Interesse für Fotografie erwähnte. Zwei oder drei Dinge der Gemeinsamkeit: Beide an Musik interessiert, sowie Fotografie. Und eine Schauspielerin. Faszination dafür bei der anderen. Eventuell mehr?
Merle ging etwas spazieren, rauchte eine Zigarette und versuchte es dann noch mal. Nach wie vor meldete sich niemand. Dickkopf ist Dickkopf, so versuchte sie es wieder und nochmal, bis endlich Palina an der Strippe war.
Für einen Besuch wäre es jetzt natürlich zu spät. Merle hatte keine Ahnung wo Palina wohnte. Eine halbe Stunde bis dahin wären es sicher. Dann hätte auch schon die Tankstelle gewartet.
„Ach du bist`s! Freut mich mal wieder von dir zu hören!“ Es hörte sich an, als würde sie wirklich jubilieren. „Oh sehe gerade, du hast schon ein paar Mal versucht mich zu erreichen, tut mir leid, dass ich mich noch nicht gemeldet habe.“
„Hab mir die Finger wund gewählt.“ sagte Merle in etwas beleidigtem Tonfall.
„Ähm, ja, ich hatte das Handy die ganze Zeit aus…“ erwiderte Palina.
„Macht nichts“ sagte Merle, und meinte es auch so. „Dachte nur mal dass wir uns bei dir oder mir mal treffen, ein bisschen schnacken, oder mal Wein trinken oder was so deinem Geschmack entspricht…du schienst ja interessiert dass wir uns mal sehen, aber wenn nicht…“
Am anderen Ende der Leitung Schweigen. War es frostig, nachdenklich, neutral? Merle konnte das nicht richtig deuten. Dann ertönte wieder dieser warme, sinnliche Klang.
„Ich stand auf der Bühne, Merle. Proben für unser neues Stück.“ jetzt von eben dieser Stimme.
„Oh, wusste gar nicht mehr richtig, dass du Schauspielerin bist, dachte irgendwas mit Kindern, Theaterpädagogik oder so.“ kam es jetzt erstaunt von Merle.
„Ich kombiniere das, Merle, tanze gerne auf verschiedenen Hochzeiten.“ Das jetzt in einem informativen Tonfall, als würde sie irgendeinen Infotext aufsagen, man merkte, eben eine Schauspielerin die professionell mit ihrer Stimme umzugehen weiß.
Merle war jetzt am Schweigen. Hatte sie irgendetwas falsches gesagt, vielleicht ein Ding welches Palina unterkühlt werden ließ? Dabei war ja von ihr die Initiative für ein Treffen ausgegangen.
Aber Schauspielerei. Interessant, vielleicht aufregender als Musik oder Fotografie. Merle ging nicht oft ins Theater. Dafür besuchte sie häufig Kinos, war generell ein großer Filmfan. Ihr Traumberuf, sogar vor Fotografin: Kamerafrau. Vielleicht wäre eine ganz gute Schauspielerin aus ihr geworden, aber Merle zog es persönlich nicht wirklich zur Kunst. Dafür war sie zu praktisch veranlagt.
Als keine Reaktion mehr kam sagte sie ungeduldig: „Und? Stehst du morgen wieder auf der Bühne?“
„Ja, selbstverständlich. Muss noch eine Menge geprobt werden.“ erwiderte Palina ruhig und bestimmt.
„Tja, da kann man nichts machen. Entschuldige bitte die Störung.“ kam es enttäuscht von Merle.
Merle wollte gerade auflegen, als sich Palinas wohlklingende Stimme wieder meldete:
„Merle, warte, bitte…“
„Ja? Bin noch dran, Palina…“ sagte Merle wartend.
„Ich wollte noch sagen, gegen neun müssten wir mit den Proben fertig sein, wenn auch alles aufgeräumt ist, und so weiter. Wenn du Lust hast mich abzuholen…“ kam es jetzt von Palina.
„Joa, das ließe sich wohl machen…“, Vorfreude in Merles Stimme.
Palina schwieg wieder einen Augenblick, Merle hörte, sowie sie den Vorwurf gehört hatte, wie sie ihre Stirn runzelte. Dann sah sie, als stünde sie vor ihr, wie sie lächelte. Wie sie ihre ebenmäßigen weißen Zähne freilegte. Sich Grübchen in ihre hohen Wangenknochen eingruben. Ihre Augen strahlten!
„Du bist wirklich ein Schatz, Merle!“ sagte Palina mit Leuchten in der Stimme.
Merle überlegte wann Rudi sieh mal als Schatz bezeichnet hatte. Oder welche Kosenamen er überhaupt hatte.
Sie schluckte. Ein angenehmes Prickeln durchlief ihren kleinen, gut ausgestatteten Körper. Wow, das ist ja fast wie sich zu verknallen.
Palina Stimme ertönte wieder, wohlklingend, wohltuend: „Nett, dass du angerufen hast, Merle. Ich mag Schätze. Und Fotofachverkäuferinnen. Freue mich dann auf morgen. Gute Nacht!“
Merle ging zur Tankstelle. Es sah so aus, als ginge sie auf dem Bürgersteig, aber in Wirklichkeit schwebte sie auf Wolken. Absolut lächerlich eigentlich. Als ob sie einen Typen kennengelernt hätte, auf den sie stand. Aber es war halt so und die Sache war eigenartig: Obwohl sie Palina kaum kannte, kaum etwas über ihre Interessen und Ansichten glaubte sie endlich eine beste Freundin fürs Leben gefunden zu haben. Vielleicht sogar die Schwester, die sie sich immer gewünscht hatte. Dabei hatte sie Theater nie interessiert, aber vielleicht war gerade das der Reiz des neuen?
Auf ihrem Handy waren wieder zwei Sprachnachrichten von Lucas, diesem perversen Muttersöhnchen. Sofort gelöscht den Dreck. Naja, eigentlich war es nicht direkt pervers zu fragen, ob sie mal Aktmodell sein möchte. Trotzdem nervig.
Die Schicht selbst verlief dann ruhig, nichts Besonderes. Fast schon ungewöhnlich ruhig. Manchmal dachte sie es wäre ganz nett ihr liebe Menschen wie Steffi oder Rudi um sich zu haben. Andererseits mochte sie es auch mal ruhig, mal ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Kopf frei kriegen.
Um 23:30 Uhr kam ein wirklich alter Mann, mindestens Achtzig, kaufte sich Pfeifentabak, Schnaps, meinte zu ihr: „Junge Frau, Alkohol und Drogen sind die größten Feinde des Menschen! Aber in der Bibel habe ich gelesen, dass man auch seine Feinde lieben soll!“ Merle fand das lustig. Das versüßte ihr die ansonsten langweilige Nacht.
Nicht so versüßend fand sie es, dass sie dieser Lucas wieder nervte. Was fiel ihm ein, was glaubte er wer er war? Dämlicher pubertärer Asi-Typ, der nur irgendwelche Rap-Musik mit „Ich ficke deine Mutter“ sowie schlimmeren hört, dadurch denkt, dass er der coolste Macker mit dem größten Schwanz wäre, oder was? Der jeden Satz mit „Weisstu?“ beendet? Aber Merle hatte von Rap-Musik auch keine Ahnung…Nicht ihr Typ Mann jedenfalls, falls man dieses Jüngelchen ein Mann nennen kann…Ob Rudi ihm mal die Meinung geigen sollte? Aber Merle war ja Feministin, wollte sich lieber selbst umso was kümmern…
Sonst passierte nichts weiter, Während sie auf ihrem Handy rumdaddelte – irgendwelche Spiele spielte, uralte Textnachrichten las – dachte sie an ihre Beziehung mit Rudi. Klar, sie war froh einen starken Mann an ihrer Seite zu haben – aber brauchte eine starke Frau wie sie das überhaupt? Sie mochten beide Rockmusik – aber Rudi mag haargenau eine einzige Band, Nickelback. Wirklich nichts gegen diese Combo – aber nur? Und ehrlich gesagt hatte sie nicht den Eindruck – wenn er mal wieder auf dem Sofa saß und eine Nickelback-Live-DVD anstierte, dass ihn das wirklich begeisterte. Als ob er keine Lust hätte sich mit mehr zu beschäftigen. Anderer Musik. Alle Versuche ihrerseits ihn mit Grunge oder Stoner Rock, Elektro, älteren Sachen bekannt zu machen sind komplett fehlgeschlagen. Aber irgendwie mochte sie das auch. Dieses harte, verschlossene, geheimnisvolle, emotionslose. Unglaublich männlich. Ein richtiger Kerl. Nicht so ein Möchtegern-Ghetto-Player aus dem schleswig-holsteinischen Dorf wie dieser Lucas.
Langweilig war ihr nie in der Beziehung. Wenn Merle sich nicht in Arbeit stürzte, dann ging es halt auf Konzerte (da ihn die meiste Musik nicht interessierte halt allein), oder fotografierte. Manchmal auch in Fotoausstellungen (was allerdings auch nicht in seinen Interessenbereich fiel.)
Man muss ja in einer Beziehung nicht immer die gleichen Interessen haben, oder? Aber sie wollte sich jetzt auch nicht die ganze Zeit darüber das Hirn zermartern. Sondern freute sich darauf, wenn Palina – ihre neue Freundin – sich wieder meldete.
Nach der Nachtschicht schlief Merle wieder durch – sie und Rudi verpassten sich gerade. Sie machte sich dann um acht Abendbrot. Rudi hatte als Wachmann so extreme Arbeitszeiten, dass sie sich kaum zu den Mahlzeiten sahen. Wenigstens eine Gemeinsamkeit des Paares.
Wieder Lucas, du liebe Güte…
Merles Proben waren im „Schnürschuh-Theater“ einem kleineren Theater in Bremen-Neustadt, gar nicht so weit weg von ihrer Photo-Dose-Filiale. Wirklich klein und schnuckelig, mehr so ein Jugend-Theater? Wenn bekannte Stücke für Jugendliche umgeschrieben werden, das ist doch wie mit Kunststoff überzogener Edelstahl, oder nicht? Sollte es sich biegen, ist es für junge Leute, wenn es bricht nicht. Aber sie hatte noch Zeit, und ging noch etwas spazieren, dieser Teil der Neustadt war ihr gar nicht so bekannt. Hier und da ein gutes Fotomotiv, aber keine Kamera dabei.
Na, jetzt wurd’s knapp, gleich wieder zurück zum Theater.
Circa zwanzig Leute raus aus dem Gebäude, zum Schluss dann Palina.
Eine innige Umarmung, und Merle fragte: „Wohin?“
„Na, irgendwo hier in der Nähe gibt’s doch irgendwo was Nettes, bestimmt. Hab morgen meine Premiere und will nicht zu sehr einen draufmachen, und du hast ja sicher auch nicht so viel Zeit, oder?“ antwortete Palina.
„Irgendwohin tanzen gehen? Was für Musik magst du so?“ kam es jetzt interessiert von Merle.
„Nein, niemals, ich will mich nicht zu sehr verausgaben, muss für morgen fit sein.“ Irgendwie hatte sie jetzt einen strengen, humorlosen Tonfall drauf. Wohl nicht so selten, wenn es um ihre Schauspielerei ging.
„Verstehe“ sagte Merle jetzt in ironischem Tonfall. „du bist eine Star-Schauspielerin und darfst dich nicht gehen lassen, musst auf deinen Ruf achten.“ „Haha.“ Böser Blick von Palina.
Sie gingen in ein kleineres spanisches Restaurant im Ostertorsteinweg. Merle war schon ewig nicht mehr essen gewesen (Rudi ging nie mit ihr aus). Palina schien das Lokal zu kennen, wechselte einige Worte mit der Bedienung, wurde von einigen erkannt. Sie hatten beide keinen großen Hunger und bestellten daher nur ein paar Tapas. Als das Essen servierte wurde, überkam Merle dann doch der Appetit. Sie durfte auch noch die Portion von Palina verputzen.
Angeregtes Gespräch der beiden, Merle war sehr erfreut das Palina sich auch für Fotografie interessierte. Ihre neue Freundin hing richtig an ihren Lippen als Merle erzählte, dass sie in ihrer Freizeit gerne, bewaffnet mit einer uralten Analog-Kamera, durchs Viertel ging. Eindrücke von tristen Fahrradständern und Waschsalons einfangend. Dass sie das eine oder andere Mal ihre Werke ausgestellt hatte.
Inzwischen war es schon zehn, und Palina sagte verlegen, dass es bei ihr Zeit fürs Bett wäre.
„Neulich hatte ich mal eine Verabredung, da ist es ziemlich spät geworden, am nächsten Tag war ich nicht mehr fit bei der Probe, daraus habe ich gelernt.“ Sagte sie in bedrücktem Tonfall.
„Eine Verabredung? Und…was ernstes?“ kam es von Merle in interessiertem Tonfall.
„Nein, nee. Ein alter Bekannter aus meiner Schulzeit in Detmold,“ sagte Palina, aber ihre Stimme klang anders.
Warum war sie eifersüchtig? Weil Palina mit einem Typen einen Abend verbrachte, der ihr anscheinend etwas bedeutete? Manchmal wunderte Merle sich über sich selbst.
„Merle…hast du Lust ins Kino? Demnächst läuft im City 46 der Neue von Jim Jarmusch.“ ploppte es plötzlich aus Palinas Mund.
Merle bekam einen Stich ins Herz. Sie ging gern ins Kino. Hatte sogar einen gleichen Lieblingsregisseur. Irgendwo in einer Kiste waren noch einige VHS-Kassetten mit Kaurismäki-Filmen. Ob sie mal mit Palina einen schönen Mädchen-Film-Abend bei einigen Gläsern Rotwein machte?
„Also, am Samstag um Acht beim City46?“ Merle hatte in ihrem Leben noch nie geweint, jetzt tat sie es. Die Straßenbahn der Freundschaft war abfahrbereit.
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