Auf diesen Titel habe ich schon lange gewartet. Von allen Nitro+Chiral-Spielen soll er am längsten sein und ich habe auch 92 Spielstunden gebraucht. Ich bin ja immer noch der Meinung, dass Dramatical Murder (ohne Reconnect) zwar gut ist, aber dass mir alle anderen Titel noch mehr gefallen und dass es etwas frustrierend ist, dass DMMD trotzdem der einzige Titel ist, der wirklich Aufmerksamkeit bekommen hat. Slow Damage hat meine Erwartungen voll erfüllt und viele Sachen richtig gemacht, die ich bei DMMD vermisst hatte, aber ohne dessen großartige visuelle Effekte einzubüßen, wie es bei den früheren VNs der Fall war.
N+C veröffentlicht VNs, die sehr story-driven sind und freischaltbare wahre Routen aufweist, gleichzeitig aber viele love interests hat - das erzeugt durchaus eine Spannung, denn es kann leicht das Gefühl aufkommen, dass die "falschen" Leute nur Filler sind, bis man die richtige Route freischaltet. Ich denke, Slow Damage hat das ziemlich gut gelöst, aber ironischerweise, indem eine noch kontroversere Möglichkeit gewählt wurde, denn die wahre Route ist hier nicht unbedingt die beste. Es sterben einige Leute, die in anderen Routen am Leben bleiben - man muss für sich selbst aussuchen, ob es das für einen selbst wert ist - ein größerer Sieg, aber unter größeren Einbußen.
Ähnlich wie in Ace Attorney kann man verschiedene Orte in Shinkoumi, dem Setting der Geschichte, erforschen - in den liner notes wurde erwähnt, dass das ursprünglich noch expansiver geplant war, aber ich bin ganz froh, dass es dann doch recht straff gehalten wurde. Auch die Befragungen und die euphorischen Episoden haben mir sehr gefallen und wurden gut in die Story integriert.
Mir hat gefallen, dass so ein breites Spektrum an Altersklassen vertreten war. N+C haben schon seit Beginn einen ossan/ojisan pro Spiel, aber hier sind's gleich zwei sehr verschiedene: Taku und Madarame. Der Altersunterschied spielt bei ersterem eine ziemlich große Rolle, während er bei Madarame nur sehr beiläufig erwähnt wird; ich mochte diesen Kontrast. Der Charakter der wahren route ist selten mein Favorit und bei Fujieda war das auch nicht der Fall, aber schlecht fand ich ihn auch nicht. Reis Route fand ich auch sehr interessant - nur die Chemie zwischen ihm und Towa hat micht nicht ganz so überzeugt - sind süß zusammen, aber platonisch gefallen sie mir besser.
Die Musik ist wie gewohnt großartig. DMMD fand ich ja schon super, aber nicht durchgehend - hier ist praktisch jeder Song überzeugend. Außerdem gibt's für jedes Ende - gut und schlecht - ein eigenes Lied, was sonst nur bei sweet pool der Fall war. Es waren viele verschiedene Bands und Genres dabei - Swing/Jazz (Anna Evans Golden Folks), Rock/Shoegaze (The ANDS), Metal (Arkta) und Electro/Triphop (GOATBED).
Teilweise hätte ich mir noch eine stärkere Einbindung von tertiären Charakteren in die Routen gewünscht - storymäßig ist alles top, aber an der Charakterentwicklung sind nur wir als Towa beteiligt und die anderen Charaktere verstehen gar nicht, was los ist. In Reis Route hätte ich mir z.B. noch mehr Gespräche mit Junko, Honami und Arata gewünscht, jenseits der Deathmatches. Es gibt zwar viele Momente, in denen man mit ihnen redet, aber dann nur über Rei und nicht als Gruppe. Offensichtlich wollen sie ihn auch unterstützen, aber wir bekommen nicht wirklich mit, wie.
Die schlechten Enden sind wieder sehr gute thematischen Gegenpole zu den Sachen, die auf den jeweiligen Routen angesprochen werden. Taku hat mir da wieder am meisten gefallen, aber auch Fujiedas schlechtes Ende war großartig - weniger charakterspezifisch, sondern wegen des potenziellen Ausgangs der Story und auch wegen der Änderung der erzählten Perspektive. Toono und später Sakaki sind beide auf ihre Art klassischen Bösewichte und bei Sakaki wurde das gut geforeshadowed. Maya als post-mortem Gegnerin sozusagen fand ich auch sehr gut - ich liebe diese semi-sympathischen Darstellungen von Soziopathie.
Towa als Protagonist ist auf den ersten Blick eine Rückkehr zu den klassischen N+C-Protagonisten wie Akira, wie auch das ganze Spiel Ähnlichkeiten zu Togainu no Chi hat. Aber durch sein höheres Alter und seine Lebenserfahrung (und dem Fakt, dass er nicht Jungfrau ist - ganz im Gegenteil) hebt er sich schnell ab. Er ist moralisch ambivalent und hält sowohl die anderen Figuren wie auch das Publikum emotional auf Distanz - warum er trotzdem so viele Connections hat, wird im letzten Akt des Spiels dann sehr gut erklärt...
Nach Fujiedas Befragung im roten Raum und Eijis Verrat kamen bei mir ein paar Ermüdungserscheinungen auf - ich dachte mir "Eigentlich ist doch alles jetzt aufgedeckt, was soll das denn jetzt?", aber der Showdown mit Sakaki und die finale Entscheidung war so gut gemacht, dass das schnell wieder vergessen war.
Mir schwirren noch so viele Sachen im Kopf, aber das müsste das wichtigste gewesen sein - ich belasse es mal dabei... Ich war zu spät fertig, um noch das Chiral Night Liverkonzert per Streaming ohne Spoiler mitzuerleben, aber jetzt bin ich zumindest soweit! Ich würde mir auf jeden Fall für's nächste Mal Tickets kaufen...
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